Blitz

 

"Schlaf doch endlich", sagte meine Frau mit einem leicht grollenden Unterton, "du bist doch nicht etwa krank? Fehlt dir was?" Die Fragen kamen rasch und ich hörte deutlich den geänderten Tonfall, der jetzt eher besorgt klang. "Nein!", sagte ich "Es ist nicht´s". "Nur", zog ich in die Länge. "Was nur", kam es nun wieder ungeduldig zurück. "Nur, ich gehe seit Tagen mit einem Gedanken schwanger".  Sie lupfte meine Bettdecke und sagte lachend: "Deinem Bauchumfang nach bist du aber schon länger schwanger, als nur ein paar Tage". Ich war darüber etwas verärgert. Aber ganz kurz nur. Denn meine Gedanken führten mich weit ab von dem derzeitigen Geschehen. Ich sah Blitze, überall nur Blitze und den wirtschaftlichen Nutzen den man daraus ziehen könnte.

Ich war wieder zurück in der Gegenwart. Sag mal, fragte ich meine Frau "Wieviel Kinder haben wir eigentlich?. Was soll diese dumme Frage? "Sieben natürlich". "Und wieviel davon sind von mir?" fragte ich provokant. Ihre Bettlektüre, gottseidank nur eine Gedichtesammlung, flog mir entgegen. Mit der immer noch aufgewühlten Bettdecke konnte ich den Treffer aber leicht abmildern. "Immer wenn du über unseren Jüngsten, unser Adoptivkind sprechen willst, hast du diese provokante Eigenart zu fragen". sagte sie neugierig. "Was ist mit ihm"?, wollte sie wissen. "Nun sag schon", drängte sie, als ich mir erheblich Zeit ließ.

"Unsere sechs leiblichen Buben sind alle schon aus dem Haus". "Was soll das jetzt nun wieder"? unterbrach sie mich. "Wir werden sie zurückholen müssen, brummelte ich und um bei meinen weiteren Ausführungen nicht unterbrochen zu werden, sprach ich ausnahmsweise schnell weiter. "Unser Jüngster hat mich da auf eine sensationelle Idee gebracht. Die zukunftsweisend und bahnbrechend für die Gewinnung von Ernergie sein könnte. Und da alle unsere Söhne bei der Lösung der Aufgabe helfen können ja müssen, ist die Rückkehr in ihr Elternhaus unumgänglich". "Gut, dann kommen sie wieder, aber lass uns jetzt endlich schlafen!"

Beim Frühstück war es dann aus mit der Zurückhaltung. "Nun sag schon endlich auf was für eine Idee hat dich Benjamin gebracht, und weshalb sind alle Jungs gefordert wieder nach Hause zu kommen"? kam es sehr ungeduldig zwischen Kaffee und Frühstücksbrötchen aus ihrem Mund. "Nun, nun sollte man über solche, beinahe schon dämonischen Ideen nur im geheimen sprechen. Es gibt sicherlich viele Menschen denen meine Visionen Angst machen und andere die davon partizipieren, oder die Ideen gar stehlen wollen". "Mann, was redest du für wirres Zeug. Ich glaube du hast Fieber und sprichst im Wahn", kam es mitleidvoll über den Frühstückstisch.

"Unser Benjamin ist über sich hinausgewachsen. Weißt Du noch als er zu uns kam. Er war schüchtern und ängstlich. Man hätte glauben können er ist überhaupt kein Junge. Weder Fußball noch Schwimmen, oder sonst eine körperliche Aktivität  interessierte ihn", murmelte ich vor mich hin. "Kein Wunder, er kam erst mit zehn Jahren zu uns, und in diesen zehn Jahren warst du zwangsläufig nicht in der Lage ihm so was einzutrichtern. Unsere Jungs waren alle schon älter. Damit fielen sie quasi als Spielkameraden aus. Deine Erkrankung ließ es auch nicht zu, daß du bei ihm den Virus von Fußball oder ähnlich dummem Zeug motivieren konntest. So ist er halt zum Bücherwurm geworden. Wie du ihn immer bezeichnest." hielt meine Frau mir vor. "Geh, das klingt ja als würde ich ihn deswegen nicht mögen". Nein, das kann man wirklich nicht sagen, nachdem du ihn das Motorrad gekauft hast". "Nein Mutter, kein Motorrad. Sondern einen Motorroller mit Beiwagen". "Ja, das ist es ja. Einen Beiwagen mit Extras zum Umbau als Nachtquartier und ähnlichem gefährlichem Schnickschnack. Seitdem ist er als tagelang weg und ich mache mir die größten Sorgen". "Das ist kein Schnickschnack, das ist alles für sein Hobby". Ach was Hobby. Gefährlich ist das Ganze, sehr gefährlich". "Ja, ich weiß was du meinst"

Es ist schon längere Zeit her, da flüchtete  Benjamin bei jedem Gewitter in den kleinsten Raum unseres Hauses, weil er glaubte dort sei kein Platz mehr für einen Blitz. Und er sei sicher dort. Es war immer ein kleines Drama bis sich Benajmin wieder beruhigt hatte. Ganz schlimm war es wenn die Gewitter nachts tobten. Und heute konnte man ihn als Blitzjäger erleben.

Das Blitzlicht eines Fotoapparates weckte seine Neugier. Benjamin las alles was es über Blitzlicht an Informationen kam und auch über das Entstehen und die Wirkung der Naturblitze. Er fotografierte und studierte sie. Zunächst vom Haus aus. Dann bauten wir auf das Treppenhaus einen zweistöckigen Turm. Der erste Stock war mehr das Studierzimmer, weil es eine geschlossene Einheit war. Im zweiten Stock war aber fast ringsum freie Sicht. Die wurde ermöglicht mit einer ganz leichten Dachkonstruktion, die von filigranen Streben getragen wurde. 

Der Beiwagen war tatsächlich raffiniert konstruiertund mit dem Nötigsten ausgestattet um leicht mehrere Tage zu biwakieren. Wie bei einem Sandwiches gab es zwei Hälften. den oberen Teil konnte man umlegen und mit  Teleskopbeinen feststellen. Dadurch war es möglich ein keines Zelt darauf aufzubauen. Die beiden Halbschalen waren mit sehr vielen Fächern versehen. Diese enthielten die notwendigen Utensilien wie Gaskocher, Geschirr, Töpfe usw. Ein Fach war speziell für Lebensmittel geeignet, Reservekleidung und Waschzeug waren auch an Bord. und selbstverständlich alles Notwendige für sein Hobby, die Jagd nach Blitzen. 

Wenn Benjamin dann wieder zu hause war zeigte er seiner Mutter ganz stolz die tollsten Aufnahmen und erzählte in abgeschwächter Form den Ablauf der Jagd nach den besten Plätzen für´s Fotografieren. Mir konnte er jedoch nichts vormachen. So erfuhr ich immer die echte Version. Inzwischen plante er seine Touren akribisch und nicht mehr zufallsbestimmt. Die neueste technische Ausrüstung ermöglichte eine zielgenauere Bestimmung der zu erwartenden Gewitter.

Einmal erzählte mir Benjamin er habe den Ort Mosbach als wahrscheinlich günstigste Stelle ermittelt. Aber schon auf der Anfahrt, kurz nach Heidelberg habe es wie aus Kübeln gegossen. Der Donner klang unheimlich bedrohend und hielt sich im Neckartal recht lange. Die Autofahrer mußten wegen des Starkregens sehr langsam fahren. Seine Mission schien bedroht, weshalb er mit riskanten Manövern die Auto´s überholte und stur seinem Ziel Mosbach zustrebte. In Hirschhorn ging gar nichts mehr. Da hatte Benjamin den Einfall zur Burg Hirschhorn hochzufahren. Er wollte sich dort obeneinrichten und auf Beute warten. Das letzte Stück mußte er zu Fuß laufen. Das war schwieriger als es hier zu lesen ist. Der Regen war durch die Nähte der Kombination gedrungen. Benjamin war außen und innen gleichermaßen naß. Der Weg war steil und rutschig. Mit Hängen und Würgen kam er auf der Burg an und suchte sich einen passenden Platz.

Seine Zähigkeit und Ausdauer wurden reichlich belohnt. Blitze zuckten rings um ihn herum. Da war einer der ging fast gerade zu Boden. Dort einer der wollte einfach nicht enden, immer wieder teilte er sich, und sah bald aus wie ein Spinnennetz. Einem Inferno gleich leuchtete es über dem Neckar, den Bergen und dem Schloß. Manchmal erhellte ein neuer Blitz die Szene und der vorhergehende war mit seiner Leuchtkraft noch gar nicht zu Ende. Es waren unbeschreibliche Momente, die  im Bild festzuhalten waren. Nässe, Kälte und jetzt auch Hunger waren vergessen bei dem Anblick dieser Naturgewalten die Benjamin erleben durfte.  Benjamin hatte einen Platz auf der Empore ergattert und war regelrecht im Zentrum des Schauspiels.

So stark und heftig es war. Abrupte Stille herrschte auf einmal und lies das Ganze als einen Traum erscheinen. Hätte Benjamin nicht den absoluten Beweis, er hätte nicht gewußt ob das Erlebte wahr war oder nicht. Und plötzlich waren da wieder Nässe, Kälte und Hunger, die ihn wachrüttelten. Er machte sich noch einmal bewußt, daß er Blitze aller Art und Formen miterleben durfte. Alles was ihm vor die Linse gekommen war, hatte er fotografiert und mit Stolz konnte er sagen, das waren meine bisher besten Aufnahmen. Er lief, mehr oder minder schlecht, zu seinem Motorroller zurück. In Gedanken lobte er noch einmal den Entschluß nur einen einfachen Motorroller mit Beiwagen zu besitzen. Mit einem Auto wäre er nicht zu einem solchen Logenplatz gekommen.  Mit einem Auto würde er heute noch im Stau stehen. Jetzt aber schnell nach Hirschhorn. Dort soll es ein sehr gutes Lokal, und zwar zum "Hirschen" geben. Duschen, essen und nur noch schlafen, waren jetzt seine Gedanken.

 


Erich Peter Kuhn©

Redaktionell ergänzt im Juli 2014