Familie Kuhn vor dem Anwesen
der Großeltern in Speyer-Nord, Kiefernweg 20
Karl mit Führhund Barry, Irma, Karl-Heinz, Erich und
Monika im Rennwagen der 50er Jahr
Erinnerungen
an meinen blinden Vater
Wann, wie, wo?
Von der Mutter erfuhren wir, dass Vater einen Heimaturlaub überzogen hatte. Bei der Rückkehr zu seiner Einheit wurde er sofort festgenommen und eingesperrt. Ihm drohte die Abkommandierung zu einer Bewährungseinheit. Der übereilte Rückzug vereitelte dies.
Wann, wie, wo?
Drei Fragen die von mir nie angesprochen wurden und deshalb auch wenig konkrete Informationen vorliegen. Nur aus allgemeinen Gesprächen hat sich für mich folgender Sachverhalt ergeben,
Wann wurde mein Vater schwerstverletzt?
Es war auf dem Rückzug der deutschen Wehrmacht nach dem verlorenen Feldzug gegen Russland im August 1943.
Wie wurde mein Vater schwerstverletzt?
Beim Vormarsch der deutschen Armee nach Russland wurde der eroberte Boden vermint. Damit sollten Partisanenverbände, die aus dem „eroberten" Hinterland ihre Attacken starteten, bekämpft werden. Bei dem dann notwendigen schnellen Rückzug der restlichen Wehrmachtsteile mussten die Pioniere, zu denen auch mein Vater gehörte, die selbst verlegten Sprengsätze - nur mit der Schaufel - wieder ausbuddeln. Bei einer solchen Arbeit explodierte eine Mine und fügte meinem Vater erhebliche Verletzungen zu.
Ganz deutlich konnte man entsprechend den Verletzungen die Arbeitshaltung nachvollziehen. Der linke Unterarm fehlte gänzlich. Die rechte Hand war eingeschränkt noch zu gebrauchen. Ringfinger und kleiner Finger waren steif. Die größte Schädigung war aber im Kopfbereich. Mein Vater hatte sein Augenlicht verloren und der Schädelknochen über die ganze Stirnbreite war zertrümmert. Der Geruchs- und Geschmackssinn war ebenfalls beeinträchtigt. Wegen der Verletzungen an der Nase musste ein separates Nasenloch hergestellt werden.
Wo passierte das Ganze?
Im Gebiet von Smolensk am Dnjepr. Smolensk liegt an der wichtigen Verkehrslinie Warschau-Moskau, etwa 400 Kilometer vor der russischen Hauptstadt.
Genaue Angaben über Lazarettaufenthalte sind Mangelware. Ich weiß zwar aus spärlichen Erzählungen meiner Mutter, dass sie meinen Vater mehrmals besuchte, aber wann und wo ist mir abhanden gekommen.
Eine Aussage ist mir aber für immer im Gedächtnis geblieben.
Es passierte offensichtlich auf dem Truppenverbandsplatz. Es ging um die Verwundeten, die Richtung Heimat transportiert werden sollten. Ein Sanitäter fragte den behandelnden Arzt ob mein Vater transportfähig sei? Dieser antwortete, „der überlebt seine Verletzungen nicht!" Mein Vater soll diese Aussage bei vollem Bewusstsein mitbekommen haben.
Allein, dass mein Bruder 1945 und ich 1947 geboren wurden, beweist, dass der Truppenarzt nicht recht behalten hatte.
Erste Erinnerungen
Eine zeitliche Zuordnung der ersten Erinnerungen ist mir heute nicht mehr möglich. Eine Chronologie muss deshalb unterbleiben. Dennoch versuche ich etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen.
Die allererste Erinnerung ist ebenfalls eine Erzählung meiner Mutter.
Ich war sehr krank, offensichtlich hatte ich hohes Fieber. Mein Vater unterbrach seine Ausbildung an der Solitude in Stuttgart und eilte (ist relativ zu betrachten) nach Hause, und prompt ging es mir besser. Ob es wirklich das Erscheinen meines Vaters an meinem Krankenbett war, sei dahingestellt. Es ist aber der erste Hinweis auf die enge Bindung zwischen ihm und mir.
Wir wohnten damals in Speyer, Wormser Landstraße 139, im Hinterhaus. Zum Hof hin lag die Küche. Sie diente gleichzeitig meinem Vater als Werkstatt. Mein Vater war zum Bürstenbinder ausgebildet worden. Die Schlafgemächer lagen Richtung Osten. Von unserem Gemach aus konnten wir auf den Garten und die nähere Umgebung, Kuhweide genannt, blicken,
Eines Abends, alle, außer Vater, saßen in der Küche, einschließlich des Blindenführhundes „Barry". Ein schreckliches Poltern, Stöhnen und Fluchen drang vom Flur her zu uns. Wir waren alle zu tiefst erschrocken. Was war passiert? Mein Vater war vom Keller kommend über eine Kartoffelkiste?, die im Flur herum stand, gestürzt. Außer Prellungen, einem großen Schrecken und Wut gegen den Verursacher lief die ganze Sache relativ gut ab.
Ereignisse bei denen man als Hauptperson mitwirkte, bleiben unweigerlich besser haften. So kann ich mich noch gut daran erinnern, dass es auch das eine oder andere mal Senge gab. Vater klemmte mich zwischen seine Beine, drückte mich mit seinem Armstumpf herab und dann gab es mit dem Handfeger einige saftige Hiebe auf den Hintern. Wie er mich aber vor der Abstrafung „fangen" konnte, ist mit heute noch ein Rätsel.
Ist es nur Einbildung, oder war es wirklich so. Jedenfalls glaube ich mich zu erinnern, dass ich schon vor der eigentlichen Strafaktion heulte wie ein junger Hund. Als mich Vater fragte warum ich schon losheule, bevor es weh tat, gab ich ihm zur Antwort „dann tut es nicht so weh!". Ein weiteres mal meine ich ihn gebeten zu haben nicht so fest, dafür aber länger zu schlagen?
Es gab natürlich auch friedliche Zeiten.
Meine Eltern erhielten neue Matratzen. Meine Mutter war gerade in der Stadt einkaufen. Mein Vater war manchmal nicht gerade geduldig. Deshalb war er auch ganz erpicht die Matratzen allein, das heißt mit „meiner Hilfe", auszuwechseln. Das war ein hartes Stück Arbeit bei dem, insbesondere bei íhm, der Schweiß erheblich floss.
Mein Vater und ich waren allein zu Hause. Zur Mittagszeit machte er die Suppe warm. Beim zweiten Teller fragte ich ihn warum die Suppe jetzt heißer sei als vorher? Der Teller ist, im Gegensatz zum erstenmal, aufgeheizt und deshalb hast du den Eindruck die Suppe wäre jetzt heißer!
Jugendzeit
1950 wurde meine Schwester geboren. Die Räumlichkeiten waren für fünf Personen etwas eng. Deshalb ging mein Vater mit dem Gedanken schwanger sein Elternhaus in Otterstadt zu übernehmen und für uns anzubauen bzw. anbauen zu lassen.
Ereignisse mit meinem Vater aus dieser Zeit sind mir nicht mehr erinnerlich. Die Bauphase hat sich zwar ein bissel gehalten, insbesondere die Feier zum Richtfest. Es tobte nämlich ein heftiges Gewitter. Es wurde trotzdem kräftig gefeiert und geschunkelt. Damals glaubte ich, das Gewitter habe unser Haus zum Schwanken gebracht.
1952 zogen wir von Speyer nach Otterstadt. Im angebauten Teil des 1. OG hatten wir nicht mehr Platz als in Speyer. Nur die Zimmeraufteilung war günstiger.
Im Herbst und in der Winterzeit musste ich immer mithelfen, wenn es darum ging Brennholz für den Ofen zurechtzuschneiden. Durch aufsitzen klemmte ich das dünnere Holz im Sägebock ein und Vater schnitt es ofengerecht. Das dickere wurde selbstverständlich mit einer mobilen Holzschneidemaschine in Klötze zerkleinert. Wer es dann zerhackte weis ich nicht mehr. Nehme aber an, dass die Brüder meines Vaters und ab einem gewissen Alter auch mein älterer Bruder diese Arbeiten erledigten. Wenn mein Vater, trotz seiner Blindheit viel machte, hier war er doch aufgeschmissen.
Die Zeit 1951 bis 1955 war ohne wesentliche gemeinsame Ereignisse vergangen. Im Oktober 1955 verstarben innerhalb von zwei Tagen die Eltern meines Vaters. Da habe ich meinen Vater erstmals weinen gesehen.
Verantwortung
Bisher liest sich alles als wäre die Behinderung meines Vaters etwas Normales, also keine Beeinträchtigung seines täglichen Lebens. Deshalb muß ich von dem Plattenschrank erzählen, der für das Abreagieren herhalten musste. Wie es im einzelnen dazu kam weiß ich heute nicht mehr. Ich gehe davon aus, dass die Abfolge mehrer unglücklicher Umstände meinen Vater zornig gemacht hat. Er nahm jedenfalls mit seinem „Stumpen" den Plattenschrank hoch und zerdepperte ihn. Der Plattenschrank ging zu Bruch und mit ihm einige Schellackplatten.
Gerade bei dem Wort Schellackplatten fiel mir ein, dass ich öfter mit ihm in Speyer war um in diversen Geschäften Platten zu kaufen. Eines war, glaube ich, oben am Geschirrplätzel an der alten Münze. Wir fuhren mit dem Omnibus von Otterstadt nach Speyer und stiegen am Altpörtel aus. Manchmal haben wir die Wartezeit bis zur Rückfahrt in einem in der Nähe liegenden großen Gasthaus verbracht.
Mein Vater war trotz der körperlichen Einschränkungen handwerklich tätig. Um benötigtes Material einzukaufen fuhren wir nach Speyer. Er dirigierte mich in die Wormser Straße, um dort bei einer Eisenwarenhandlung einzukaufen. Ich konnte keine Eisenwarenhandlung entdecken und fragte nach dem Namen. Ich verstand „Vonderheydt", fand jedoch kein Werbeschild mit diesem Namen. Konnte ihm jedoch mitteilen es gäbe einen „Vooon deeer Heydt!"
Wir waren nach dem Tod meiner Großeltern, damit Vater keine Treppen mehr benutzen musste, ins Erdgeschoss gezogen. Die Küche war bedeutend größer. Ab diesem Zeitpunkt kamen auch häufig Kriegsveteranen aus der Nachbarschaft zu uns. Mein Onkel Hermann, weil er als lediger zur Familie gehörte, war dann auch dabei. Mein Onkel Franz meines Wissens nie. Wenn also diese Kriegsveteranen zu Besuch waren wurde zwangsläufig über die Soldatenzeit erzählt. Ich saß dann mucksmäuschenstill dabei und lauschte den Geschichten. An eine, die mein Onkel Hermann erzählte, kann ich mich noch erinnern.
Er war in Finnland eingesetzt und musste das Skifahren erlernen. Er schilderte die Schwierigkeiten für einen Flachlandtiroler in plastischer und drastischer Form, so dass ich mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Als er aber davon erzählte, dass einige skifahrende Soldaten ihr Leben verloren, weil Partisanen an manchen Stellen Drahtseile in Kopfhöhe angebracht hatten, musste ich doch würgen.
Unser Hund „Barry" war kein guter Führhund. Als Rüde hatte er das unheimliche Verlangen sein Revier gründlich abzuschnuffeln. Ein geordneter Spaziergang war dadurch ausgeschlossen. Mein Vater gab ihn darum zurück. Er machte deshalb den Umzug nach Otterstadt nicht mit.
Mein Onkel Hermann hatte sich einen Schäferhund zugelegt. Entsprechend der Erziehung durch meinen Onkel konnte man „Rex" als wilden Hund bezeichnen. Er war in einem großen Zwinger untergebracht. Die Umzäunung bestand aus Maschendraht. In etwa 60 Zentimeter Höhe hatte dieser eine enorme Wölbung nach außen. Wenn „Rex" tobte, hatte man das Gefühl er würde nicht am Boden, sondern in dieser Höhe auf dem Zaun laufen. Er war ein Rabauke.
Um so erstaunlicher war sein Benehmen, wenn in Vater als Führhund benutzte. Ohne jegliches Geschirr, nur mit der Hundeleine, ohne fundierte Ausbildung benahm sich „Rex" wie ein Lamm und brachte meinen Vater sicher und heil von den Spaziergängen zurück.
Bald musste „Rex" ersetzt werden. Vater bekam über das Versorgungsamt Landau von der Blindenführhundschule Oftersheim/Baden eine ausgebildete Hündin. Ein schönes Tier, ein liebes Tier, ein kluges Tier. Ich hätte so gerne Nachwuchs von ihr gehabt. Ging aber leider nicht. Wir waren nicht die Besitzer, „Anka" war nur geliehen.
Für die Mittagsspaziergänge hatte er nun eine Kameradin und Führerin. Ein solcher Spaziergang dauerte in der Regel drei Stunden. Manchmal nahm ich „Anka" auch mit, zum Angeben!!!!
Mein Vater war ein leidenschaftlicher Kartenspieler. In seiner Stammkneipe „Zum Stern" fand er immer mehrere Mitspieler, die, wie er, meist den Sonntagnachmittag mit Skat oder Schafkopf klopfen verbrachten. In seine Stammkneipe ging er regelmäßig alleine. Wir mussten ihm nur erklären in Höhe welchem Anwesen ein Hindernis war. Damals kein Problem, waren es doch nur zwei oder drei gefährliche Stellen. Er prägte sich unsere Angaben ein und los ging es. Er lief also alleine die Straße hoch, dann links um die Ecke und vor der nächsten Kreuzung das rechte Eckhaus war das Gasthaus „Zum Stern", sein Ziel. Er hat es nicht einmal verfehlt. Beim Gang zu anderen Lokalitäten wie "Zum Lamm" oder ins Vereinsheim des Sportvereins benötigte er zwangsläufig Begleitung, die lagen nämlich nicht so verkehrsgünstig.
Ab und zu habe ich ihn in seiner Stammkneipe besucht. Einmal sollte ich für ihn die Karten mischen und geben. Da wir auch zu Hause oft zu zweit Schafkopf spielten, kannte ich die Karten auch von hinten, sie waren nämlich gezinkt. Will sagen für meinen Vater „lesbar" gemacht. Ich konnte also beim Mischen mogeln ohne dass es auffiel. Beim Austeilen der Karten unterlief mir allerdings ein großer Fehler. Nicht mein Vater bekam ein supergutes Blatt, sondern sein Mitspieler Erich Helmes. Einen Herz-Solo hatte ich ihm zugespielt. Quintessens war, ich bekam 10 oder gar 30 Pfennige Honorar vom Gewinner. Von meinem Vater hätte ich wahrscheinlich nichts bekommen!!
Grundsätzlich Begleitung brauchte Vater, wenn er zur Weihnachtsfeier nach Maikammer oder Neustadt musste, zur Jahreshauptversammlung des Kriegsblindenverbandes nach Neustadt, oder zum Versorgungsamt nach Landau zur gesundheitlichen Untersuchung oder wenn Hilfsmittel beantragt wurden.
Bei meiner ersten Teilnahme einer der oben erwähnten Veranstaltungen sah ich zum erstenmal, dass es noch schwerere Schicksale gab. Es gab einige Menschen, die neben Blindheit auch die Hände verloren hatten, sogenannte „Ohnhänder". Damit sie sich wenigstens notdürftig selbst versorgen konnten, waren Elle und Speiche getrennt. Raucher klemmten also die Zigarette in die „Ersatzhand". Beim Essen konnten sie Gabel oder Löffel halten. Ein Messer konnten sie genauso wenig benützen wie mein Vater. Das hieß also, mindestens das Fleisch musste klein geschnitten werden.
Es waren überall die Kriegsfolgen, die Hilfestellung absolut erforderlich machten. Auch wenn sich Kameraden bei solchen Veranstaltungen trafen musste zum Händeschütteln Hilfestellung geleistet werden. Interessant war auch der Vorgang, wenn ein Blinder den anderen Begleiter kennen lernen wollte. Man musste dann ganz still halten, denn der Blinde machte sich ein plastisches Bild in dem er das Gesicht abtastete. „Ohnhänder" konnten dies allerdings nicht.
Gerne erinnere ich mich an den damaligen zweiten Vorsitzenden Herrn Schäfer und dessen wunderhübsche Frau. Herr Schäfer hatte noch „Glück", er war nur verschüttet worden und hatte dabei sein Augenlicht verloren. Außerdem hatte er erhebliche Schmauchspuren im Gesicht, die es grün erscheinen ließen, oder war es blau?
Zur damaligen Zeit war ich immer öfter als Begleiter eingesetzt, wenn Reisen erforderlich waren. Zunächst ging es per Bus nach Speyer, von dort per Zug nach Neustadt oder Maikammer, zum Saalbau, zur Festwiese oder zum Sportheim, oder nach Landau zum Versorgungsamt in der Reiterstraße. Vor Ort wurde dann zu Fuß die restliche Strecke zurückgelegt.
Zwei Anekdoten aus dieser Zeit muß ich noch erzählen. Ich glaube es war im Saalbau zu Neustadt. Ich musste meinen Vater zur Toilette begleiten. Im Vorraum stand eine Waage. Ich wollte absolut wissen welches Gewicht er auf die Waage bringt, denn er hatte enorm zugenommen. Ich luchste ihm einen Zehner ab, war jedoch nicht ganz so einfach, ließ ihn auf die Waage steigen, warf die 10 Pfennige ein und sagte ihm dann sein Gewicht. Ich glaube er war nicht sehr erbaut davon. Die zweite Anekdote war schon gravierender und deshalb glaube ich, dass sie in meiner Anfangszeit als Begleitperson passierte.
Wir stiegen rechts in Fahrtrichtung in den Zug ein. Als wir in Speyer aussteigen mussten, war für mich klar, dort wo du einsteigst musst du auch wieder heraus, also habe ich gar nicht erst auf der linken Seite nachgeschaut. Ich sagte zwar zu Vater, ich glaube die haben den Bahnsteig geklaut, bin dennoch rechts mit ihm ausgestiegen. Das muss man sich einmal vorstellen, wir mussten beide bis auf den Bahnkörper hernieder steigen. Bei mir ging das ganze ja noch einigermaßen, aber für meinen Vater hatte ich eine saudämliche Situation geschaffen, die er dennoch mit Bravour meisterte. Als wir um den Zug herum gelaufen waren, sagte ich in meiner Naivität, „a, do ischer jo". Er machte mir keinerlei Vorhaltungen und ich bin mit ihm nie wieder auf der falschen Seite ausgestiegen.
Wie bereits erwähnt war mein Vater zum Bürstenbinder ausgebildet worden. Während wir in Speyer wohnten, hatte er seine Werkstatt in der Küche. Meine Mutter war nicht gerade erfreut, wenn, nach dem er die Bürsten oder Straßenbesen durch den Stahlkamm zog bzw. an der Schneidemaschine die Borsten in Fasson brachte, eventuell die Spitzen auf den Herd und ggfs. in das Essen flogen.
Das war in Otterstadt passe`. Dort richtete er sich seine Werkstatt im Nebengebäude ein. Zu seiner Arbeit und Werkstatt gibt es nicht viel zu sagen, außer dass er sich ein Tonband TK 45 von Grundig (ist noch in meinem Besitz!) zulegte und von der Blindenhörbücherei in Höxter? Hörbücher auslieh. Da war ich ganz hin und weg und saß stundenlang bei ihm in der Werkstatt, um hauptsächlich die gelesenen Winnetou-Bücher zu hören. Betrübt war ich immer dann, wenn er auch morgens die Bücher abhörte und ich nicht alles mitbekam.
1959 war Vater dann erstmals vier Wochen in Kur. Mutter konnte nicht mit, da ja meine Schwester und ich und auch mein lediger Onkel Hermann zu versorgen waren. Mein älterer Bruder Karl-Heinz, damals noch in der Volksschule Otterstadt, begleitete meinen Vater nach Bad Pyrmont. „Anka" hatte dafür kein Verständnis und heulte zum Gott erbarmen. Sie durfte deshalb bei mir im Bett schlafen. Allerdings dauerte es noch einige Zeit bis sie sich beruhigte. Anfangs lief sie immer zum Fenster und suchte nach Vater.
Ausnahmsweise fuhr uns mal Onkel Otto in seinem weinroten Borgward nach Neustadt. Auf der Heimfahrt kehrten wir noch in Maikammer in eine Wirtschaft ein. Da erlebte ich zum ersten und einzigen mal, dass mein Vater beschimpft wurde, weil er dem Staat auf der Tasche liegen würde. Verständlicherweise war mein Vater auf das Höchste empört. Der Dummschwätzer hatte Glück, dass es meinem Onkel gelang meinem Vater zurückzuhalten und zu besänftigen. Der „Stumpen" hätte ihm ganz ordentlich eingeheizt.
Zeitlich nicht mehr zuordnen kann ich auch den Besuch meines Vaters bei seinem ehemaligen Kompaniechef in Oggersheim. Habe ihn aber noch gut in Erinnerung, weil ich nämlich mit ihm die Straßenbahn nach Mannheim bestieg und nicht die nach Oggersheim. Das merkte ich erst als wir über den Rhein fuhren. Bereits am Schloss wechselten wir dann die Fahrtrichtung und landeten schließlich in Oggersheim. Ich glaube sein ehemaliger Chef war von unserem Besuch nicht sehr begeistert.
1961 begleitete ich meinen Vater vier Wochen nach Bad Pyrmont. Das Gesicht unseres Gemeindesekretärs hätten sie mal sehen sollen, als ich nach sechs Monaten Lehrzeit um vier Wochen Urlaub bat. Nach dem ich ihm die Situation geschildert hatte gab es keine Probleme.
Mein Vater wollte unbedingt die Nacht nutzen für die Hinfahrt. Bis Frankfurt am Main ging es zunächst problemlos. In Frankfurt hatten wir zwei Stunden Aufenthalt. Wir hielten uns in der Bahnhofgaststätte auf. Ich legte den Kopf auf den Tisch und schlief fest ein. Mein Vater weckte mich rechtzeitig und weiter ging es nach Bad Pyrmont. Im Zug schlief ich wieder, aber sehr unruhig.
Wegen der Anwendungen, die Vater erhielt hatten wir einen festen Plan. Allerdings war noch so viel Freizeit, dass wir oft im Palmengarten spazieren gehen und gelegentlich abends eine günstige Kneipe im Nachbarort aufsuchen konnten.
Ab und zu war ich auch mit Werner, dem Sohn einer kriegsblinden Frau – sie stand bei einem Bombenangriff auf Hamburg vor dem Spiegel – unterwegs. Er war älter als ich, hatte schon den Führerschein und mietete gelegentlich einen blauen Opel Rekord mit dem wir die nähere Umgebung erkundeten.
In dieser Zeit kaufte Vater einen gelben Opel Rekord und Mutter musste chauffieren. Wir besuchten Kriegskameraden im Saarland, wobei mir einfällt dort waren Vater und Karl-Heinz schon früher mal, allerdings mit dem Zug. Weshalb ich mich noch daran erinnere. Ich habe Mutter überredet gegen die Fahrtrichtung einer Einbahnstraße zu fahren!!!!
In Finkenbach/Rockenhausen lebte ein blinder Kamerad meines Vaters „Labbeduddel" genannt. Den besuchten wir öfters. Als wir einmal auf dem Weg zu einer Versammlung waren kam uns „Labbeduddel" entgegen. Da ich keinen anderen Namen wusste sagte ich zu Vater dort vorne kommt „Labbeduddel". Ich solle nie wieder diesen Uznamen nennen, gab er mir heftig zu verstehen.
Einmal habe ich an Sylvester meinen Vater eingetauscht. Die Eltern meiner Freundin feierten in das Neue Jahr hinein. Ich setzte meinen Vater in geselliger Runde ab und zog mit meiner Freundin durch Otterstadt. Das Neue Jahr begannen wir für uns allein in der Speyerer Straße/ Ecke Fahrlache.
Nach dem ich meine Sache gut gemacht hatte, durfte ich zwei Jahre später wieder mit meinem Vater nach Bad Pyrmont fahren. Auf der Fahrt nach Bad Pyrmont wollte ich es diesmal wissen. Wir hatten nur eine Fahrkarte 2. Klasse. Ich überredete Vater, dass wir es uns in der ersten Klasse, in den wunderbaren Plüschsesseln bequem machen sollten. Der Schaffner stellte bei seiner Kontrolle fest, dass wir nicht ordnungsgemäß saßen. Ich erklärte ihm den Zustand meines Vaters und legte den Schwerbehindertenausweis mit dem Vermerk „blind" vor. Wir durften bleiben. Es war eine sehr schöne Reise.
In Bad Pyrmont lernten wir zwei blinde Kameraden aus Finnland kennen. Der eine wurde von einer Betreuerin begleitet, der andere von seiner Tochter. Außerdem lernte ich zwei junge Leute (weiblein/männlein) kennen, die als Kinder bei Bombenangriffen ihr Augenlicht verloren. Ihm begegnete ich nachts auf dem Flur wie er aus ihrem Zimmer kam. Seinen überglücklichen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen.
Imposant war ein weiterer kriegsblinder Kamerad. Er war zudem schwerhörig und trug deshalb ein Hörgerät. Der Stöpsel verursachte im aber Schmerzen, so dass er öfter den Stöpsel aus dem Ohr entfernte. Wenn seine Frau ihm etwas mitteilen wollte, tippte sie die Nachricht in einem Code einfach auf seine Stirn und er war informiert, was er durch nicken mit dem Kopf bestätigte.
Eine weitere Kur war vorgesehen in Bad Oeynhausen im Spätjahr 1964. Dazu kam es aber nicht mehr. Vater hatte aufgrund seines Gewichtes starke Probleme mit der Wirbelsäule. Außerdem schmerzte ihn die Kunststoffplatte, die für die demolierte Stirn eingesetzt worden war. Er rang sich durch diese entfernen zu lassen. Er war häufig in Krankenhäusern zu Gast. Eine Besserung seiner Schmerzen war nicht festzustellen. Trotzdem hat er sich nicht außergewöhnlich beklagt. Jedenfalls nicht so, dass ich es mitbekommen hätte.
Er hat sich durchgerungen diesen Zustand zu beenden. Am 30. März 1964 – Ostermontag – setzte er seinen Plan in die Tat um.
Erbe
„Anka" und viele Erinnerungen waren das Erbe meines Vaters, glaubte ich zunächst. Er war noch keine 45 Jahre alt als er starb. Ich wollte irgendeine körperliche Einschränkung, um in etwa so zu sein wie er.
Als ich am 11. Januar 1969 bei der Bundeswehr einen Unfall erlitt, der dann noch glimpflich abging, glaubte ich meinem Vater noch näher zu sein als je zuvor. Es sollte aber noch dicker kommen.
Als ich auf die 45 zuging redete ich mir vehement ein, nicht älter zu werden als er, mit der Folge, dass Angstzustände mich immer fester packten. Ich vertraute mich niemandem an. Keinem Verwandten, keinem Arzt. Ich war diesbezüglich beinah apathisch. Wenn es geschieht, soll es geschehen redete ich mir ein. Es war eine sehr schwere Zeit für mich.
Als ich dann 45 Jahre wurde, fielen alle Ängste von mir ab und ich war wieder „normal".
Leider nur für kurze Zeit, denn meine Gesundheit erhielt einen erheblichen Dämpfer. Die weitere Entwicklung ist in
MS + Ich zu
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Erich Peter Kuhn©
Redaktionell ergänzt im Juli 2014
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