Mutter, Manfred, Karl-Heinz und

der blonde Knabe rechts, das bin ich

 -1947-

 

 

Multiple Sklerose

 

 

und andere

 

 

Erkrankungen

 

 

 

 

 

  

Erster Kontakt mit MS

 

 

Erster persönlicher Kontakt mit MS

 

 

Privat

 

 

Beruflich

 

 

Gesellschaftlich

 

 

Medikation

 

 

Entstehung meiner MS

 

 



Erster Kontakt mit MS

 

 

Mein erster Kontakt mit MS war die Erkrankung eines jungen Arbeitskollegen. Walter Ballreich war ein sportlicher junger Mann – knapp über 30 -, der auch begeisterter Sportflieger war. Er bewarb sich bei einer anderen Behörde um einen höher dotierten Posten. Hierfür war eine ärztliche Einstellungsuntersuchung notwendig. Dabei sind offenbar die ersten neurologischen Ausfälle erkannt worden. Außerdem wurde erzählt Walter Ballreich habe versucht über eine relativ niedrige Barriere zu springen, habe sich vertan und sei gestürzt. Ein weiteres Indiz für Enzephalitis disseminata (MS).

 

Die Erkrankung eilte rasch voran. Kaum war er zuhause, hörte man von Kollegen, die ihn besuchten, dass sich sein Zustand rapide verschlechtere. Der  Zustand war so kritisch, dass seine junge Frau erheblich darunter litt. Selbst ein Wasserbett konnte seine Leiden nicht mindern und keine Erleichterung bei der Pflege bringen.

 

Walter Ballreich starb kurz vor dem Erreichen des 40. Lebensjahres.

 

 

  

 

 

 

Erster persönlicher Kontakt

 

Etwas persönlicher war ich dann von dieser heimtückischen Krankheit betroffen, als nach neunmonatiger Untersuchung im Kreiskrankenhaus Meisenheim feststand, dass mein Bruder Karl-Heinz an MS erkrankt ist.

 

Die Befürchtungen mit einem baldigen Ableben, wie bei Walter Ballreich rechnen zu müssen, trafen gottseidank nicht ein, was allerdings zu Beginn nicht überschaubar war. Mein Bruder konnte seine Arbeit als Zimmerer nicht mehr ausüben. Eine Umschulung zum Güteprüfer sorgte jedoch dafür, dass er bis heute noch berufstätig sein kann. Jedoch sind immer wieder gesundheitliche Beeinträchtigungen zu beobachten. Insbesondere bei Kälte und Zugluft. Auch das Immunsystem ist angekratzt.

 

Nun zu mir. Ich war vom 1. März 1987 bis 16. Januar 1996 in Mainz tätig. In dieser Zeit fuhr ich etwa 45.000 km jährlich mit dem Auto. So ab 1994 hatte ich beim Gasgeben ein Brennen im rechten Oberschenkel, als wäre ein glühendes Eisen und kein Knochen da drin. Mein Versuch über den Betriebsarzt eine Versetzung nach Speyer zu erreichen, scheiterte kläglich, weil die bei mir vorliegenden Einschränkungen kein ausreichender Grund waren. Ich musste also noch einige Kilometer abspulen mit meinem brennenden Oberschenkel. Häufig half mir nur, per Regenschirm das Gaspedal zu betätigen und mein rechtes Bein „ausruhen“ zu lassen. Saß ich dann so im Auto, hatte ich keinerlei Probleme??

 

Ein weiteres Phänomen war das Brennen in den Unterarmen, wenn ich diese über Herzhöhe hielt. Also beim Autofahren oder beim Schlafen. Weitere kleine Probleme wie Störung der Feinmotorik, das Besteck fiel mir aus den Händen, oder die Kraft zum Schneiden des Fleisches fehlte, sowie eine schmerzende Stirn, wenn ich von kalt nach warm kam, wurden als vorübergehende Unpässlichkeiten angesehen.

 

Nach meiner Versetzung nach Speyer musste ich keine Kilometer mehr bolzen, so dass der Schmerz im rechten Oberschenkel nur noch gelegentlich auffiel. Bei Urlaubsfahrten zum Beispiel.

 

Mitte des Jahres 1996 musste ich neben meiner Tätigkeit als Dienststellenleiter der Auskunfts- und Beratungsstelle der LVA Rheinland-Pfalz in Speyer, diese auch vor dem Sozialgericht in Speyer vertreten. In dieser Zeit kam eine weitere Krankheitserscheinung hinzu. Der psychische  Druck –Stress – als Beamter ohne juristische Ausbildung „gegen“ Rechtsanwälte und Richter zu bestehen, war enorm. Ich konnte diesem nur einigermaßen begegnen in dem ich mich gründlich mit jeder Klage befasste und mich früh im Gerichtssaal einfand, um mich zu akklimatisieren.

 

Einmal, kann ich mich erinnern, bei einer Verhandlung, die Richter Berminè führte, gelang es mir nicht seinen verschlungenen Ausführungen zu folgen und prompt habe ich ihn gegen mich aufgebracht. Er war so erregt, dass er sogar seinen Chef, Herrn Koch Leiter des Sozialgerichtes Speyer, gegen mich aufhetzte. Der hatte sich als Lamm im Wolfspelz an mich herangemacht, um meine persönliche Einstellung zu der Aufgabe als Vertreter der LVA vor Gericht zu fungieren, auszuspionieren. Beide wollten mich von diesem Amt „befreien“ lassen. Hatten aber damit kein Glück. Hinterher erfuhr ich, dass der Richter Gerbig mir die Stange gehalten hat und deshalb mindestens teilweise in Ungnade fiel.

 

Alle geschilderten Probleme waren plötzlich wie weggeblasen. Zunächst fiel es mir gar nicht auf. Ich kann deshalb auch keinen genauen Zeitpunkt nennen. Vielleicht ist er auch identisch mir dem Ende meiner Aufgabe vor dem Sozialgericht die LVA zu vertreten. Dies war im Dezember 1998.

 

Im Februar 2000 machten wir Urlaub in Bodenmais. Bei einem Spaziergang entlang des schwarzen Regen von Regenhütte bis nach Bayrisch Eisenstein gingen meine Frau und ich über längere Zeit auch auf einem Trampelpfad, der über Baumwurzeln führte. Es war eine sehr lustige Wanderung. Ich sang nämlich dabei aus vollem Hals unvollständige Wanderlieder. Das häufige Stolpern über die Wurzeln schrieben wir meinen schrecklichen Gesangseinlagen zu.

 

Abends, beim Gang zum Essen. Liefen wir am Tresen vorbei. Der dahinter stehende Hotelier kommentierte „sie hinterlassen Schleifspuren“.  Auch hier noch keinen Verdacht, dass dies gesundheitliche Ursachen haben könnte.

 

Wir gönnten uns im Bodenmaiser Winter eine ausgiebige Schlittenfahrt, mit dem Erfolg, dass wir enorm ausgefroren waren. Im Eiltempo liefen wir durch Bodenmais zurück zu unserem Hotel. Hierfür benötigten wir dennoch gut 45 Minuten. Keinerlei Beschwerden, obwohl es, wenn auch nur gering, bergauf bergab ging.

 

Im August 2000 fuhren wir von Bingen mit dem Schiff nach Boppard. Wir waren schon einmal auf der Burg Stahleck und wollten es diesmal wieder tun. Inzwischen kannten wir einen schönen schattigen Weg durch den Wald, den wir benutzen wollten. Am Bahnhof vorbei und noch einem kleinen Dorfbereich gelangten wir in den Wald. Der Aufstieg hinterm Bahnhof war schon ein Problem. Ich schallt mich einen Narren und sah nur eine momentane Schwäche. Bei den Steigungen im Wald war es allerdings nicht besser. Mehrere Pausen halfen nicht, wir mussten auf halbem Weg umkehren.

 

Meine Frau merkte, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich jedoch wollte es einfach nicht zugeben und schnauzte sie noch an.

 

Zurück in Boppard spazierten wir noch über eine Stunde am Rhein entlang. Ich war wieder beruhigt. Um dem Ganzen  die Krone aufzusetzen unterbrachen wir die Rückfahrt in Bacherach und liefen dort noch fast eine Stunde durch den herrlichen Ort.

 

Immer noch in Urlaub machten wir in Speyer einen sehr großen Spaziergang. Als wir zum Fahrzeug zurück kamen und ich losfahren wollte, konnte ich mit dem linken Bein das Kupplungspedal nicht mehr durchtreten und spätestens da war mir klar, mit dir stimmt etwas nicht. Meine Frau chauffierte uns nach Hause. Ein Arztbesuch war unausweichlich.

 

Dr. Jung, mein Hausarzt, war baff erstaunt als ich ihm meine Diagnose mitteilte. Er bezweifelte, trotz der Schilderung aller misslichen Erscheinungen, meine Selbstdiagnose. Vor Jahren (Mitte der 90er) hatte ich allerdings seinem Vorgänger einen vagen Verdacht, wegen der damaligen Störungen und der bestehenden MS bei meinem Bruder, mitgeteilt, diesen jedoch nicht ernst genommen. Als ich dann auf die häufigst gestellte Frage - bei MS-Verdacht – ob ich Sehschwierigkeiten hätte mit „nein“ antwortete, hatte er noch mehr Zweifel. Er organisierte trotzdem umgehend einen Termin beim Neurologen Dr. Schwarz.

 

Auch der erhob heftigst Widerspruch gegen meine Selbstdiagnose. Neurologische Untersuchungen, EEG, Nervenleitgeschwindigkeit, Hirnpotentiale VEP und SEP brachten nur zutage, dass die Nervenleitgeschwindigkeit links etwas geringer war. Aber er wollte nichts außer acht lassen und vereinbarte einen Termin zur Computer-Tomographie.

 

Auf dem Weg zur Praxis von Dr. Ach und Partnern in Ludwigshafen, überquerte ich eine Straße mit Straßenbahnverkehr. Als ich beinahe den Kampf, sprich Wettlauf, mit der Straßenbahn verlor war dies für mich ein weiterer wichtiger Hinweis auf MS.

 

Die Untersuchung tat nicht weh. Die Ausführungen des begutachtenden Arztes waren nicht so, dass ich in meinem Verdacht bestärkt wurde. Wieder etwas wankelmütig kehrte ich nach Hause zurück und war voller Zweifel, ist oder ist es nicht?!?!

 

Der Hammer kam als ich beim Neurologen Dr. Schwarz wieder einen Termin hatte und dieser den Arztbrief vorlas. Darin stand eindeutig es sind Verhärtungen vorhanden. Der Beweis, MS liegt vor war zwar noch nicht vollständig erbracht, aber alle Wege zeigten in diese Richtung. Letztendlich sollte eine Untersuchung des Nervenwassers die endgültige Bestätigung bringen.

 

Als ich meiner Frau mitteilte, dass doch sehr wahrscheinlich bei mir die Erkrankung MS besteht, weinte ich zum ersten aber nicht zum letzten Mal.

 

Ein Termin mit dem Heinrich-Lanz-Krankenhaus in Mannheim wurde vereinbart. Der Aufenthalt dort war sehr unangenehm. Die Ausstattung und der Zimmergenosse waren nicht gerade förderlich für meinen Zustand.

 

Die Erstuntersuchung durch den Oberarzt und die Stationsärztin brachte keine neuen Erkenntnisse. Die identische Untersuchung durch Prof. Beyerle war ergebnislos bis auf den Hüpfvorgang. Dabei stellte sich nämlich eine körperliche Schwäche im linken Bein heraus.

 

Die Nadel für das Ziehen des Nervenwassers war schon furchteinflössend. Es ging wenigstens weitestgehend gut. Aber danach hatte ich keinen Grund zur Freude mehr. Ähnlich wie bei der CT wurde auch hier nicht offen gespielt. Jedenfalls hatte man nicht den Mut die volle Wahrheit zu sagen. Die erfuhr ich auch wieder erst bei meinem Neurologen Dr. Schwarz.

 

Zur Eindämmung der Schmerzen wurden sehr starke Tabletten ausgeteilt. Ich sollte viel trinken und morgens, mittags und abends eine Schmerztablette nehmen. Da ich zunächst keine Schmerzen hatte verzichtete ich auf die Chemiepille. Ein sehr großer Fehler. Als ich dann morgens die erste Tablette auf nüchternen Magen nahm hatte ich als Folge erhebliche Magenschmerzen.

 

Als ich es abends nicht  mehr aushielt, verlangte ich mehrmals nach einem Arzt. Es kam keiner. Die Bereitschaftsärztin, die ihr Domizil außerhalb des Krankenhauses hatte, lies sich zigmal verleugnen. Erst eine erfahrene Krankenschwester hat dann mit ihrer Empfehlung mich trotz der Schmerzen auf die Seite zu drehen Abhilfe geschaffen.

 

Am 30. September war der Geburtstag meiner Frau. Ich wollte absolut zu Hause sein. Auf eigene Verantwortung mit dem Hinweis „ich komme wieder“, verließ ich das Krankenhaus. Ich hatte immer noch äußerst große Probleme aufgrund der starken Schmerzmittel, die meinen Magen auf den Kopf stellten. Der Transport mit dem Pkw glich einer Horrorfahrt. Die Lehne des Beifahrersitzes war ganz umgelegt. Trotzdem war die Fahrt fürchterlich. Jedes noch so kleine Schlagloch, bremsen oder anfahren, selbst Fahrstreifenwechsel wirkten sich negativ auf meinen Zustand aus. Als wir zu Hause waren konnte ich nicht sofort aussteigen. Mir ging es sauschlecht. Nach einem Glas Wasser ging es leidlich und ich schaffte es bis ins Bett. Dieses hütete ich zwei Tage. Vom Geburtstag meiner Frau bekam ich sehr wenig mit.

 

In dieser Zeit war meine Tochter Katja ehrenamtlich in der Bibliothek in Speyer beschäftigt. Sie brachte mir ein Buch, geschrieben von einem an MS erkrankten Mediziner mit. Erstaunlicherweise konnte ich dieses Buch ohne Empfindungen lesen.

 

Wie versprochen kehrte ich in das Heinrich-Lanz-Krankenhaus zurück. Da man aber keinerlei Anstalten machte die man im entferntesten als Behandlung ansehen konnte, kehrte ich dem Krankenhaus nach zwei unnützen Tagen  erneut den Rücken.

 

Psychisch war ich doch mehr angeschlagen als ich war haben wollte. Dies zeigte sich ganz deutlich bei folgendem Ereignis.

 

In meiner Dienststelle war plötzlich ein Sinneswandel eingekehrt. Man ermöglichte Mitarbeitern wie mir die Möglichkeit in den höheren Dienst zu kommen. Natürlich wäre eine weitere zweijährige Ausbildung und Prüfung erforderlich gewesen. Trotz meiner Erkrankung gab ich eine Bewerbung ab. Als mich der zuständige Personalsachbearbeiter zu hause anrief, um noch mal über meine Bewerbung zu sprechen brach es hemmungslos aus mir heraus, weil mir immer klarer wurde, dass ein weiterer beruflicher Aufstieg durch die Erkrankung vermasselt wurde.

 

Ich brauchte längere Zeit um mich zu ordnen und wieder in den Griff zu bekommen

 

 

 

         

                Odyssee mit dem Versorgungsamt

 

 

Der Entwicklung der Anerkennung meiner Schwerbehinderung widme ich einen eigenen Beitrag, denn das war nicht ganz einfach.

 

Am 10. November  2000, also noch rechtzeitig vor dem ominösen Datum 16. November 2000 (wer vor diesem Datum mindestens 50% GdB hatte und älter war als 50 Jahre hat bei der Pension mit 60 keinen Abzug)  beantragte ich beim Amt für soziale Angelegenheiten  in Landau die Anerkennung der Schwerbehinderung.

 

Aufgrund eines Wehrdienstunfalls am 11. Januar 1969 hatte ich schon ellenlang  eine Anerkennung von 30%GdB. Wegen diverser anderer Erkrankungen und der MS rechnete ich mit mindestens 80%. Pustekuchen, es waren gerade mal 70% und  keine sogenannten Merkzeichen, noch nicht einmal „G“ (gehbehindert), und begrenzt bis 8/2003.  Meine Zornesseele kochte gewaltig. Ich erhob umgehend Widerspruch. Diesem wurde nicht abgeholfen. Die zwingende Folge war Klage beim Sozialgericht am 2. Juli 2001. Zuständig war der Richter Gerbig, den ich bereits erwähnte.

 

Das Sozialgericht  ordnete weitere medizinische Sachaufklärung durch eine ärztliche Begutachtung bei Dr. Keller in der Rheinhessen Fachklinik in  Alzey an. Die Untersuchungen unterschieden sich nicht von denen bei meinem Neurologen Dr. Schwarz. Zusätzlich wurde die Nervenleitfähigkeit mit einem drastischen Nadelstich in die linke Wade gestestet.

 

Obwohl der Arzt beim Schlussgespräch schöne Worte fand, war das schriftliche Ergebnis niederschmetternd. Es bestätigte nur die Aussage der gutachterlichen Stellungnahme des Dr. Trein beim Amt für soziale Angelegenheiten. Dieser Schweinehund dachte ich mir.

 

Bei meinem Schriftverkehr mit dem Richter Herrn Gerbig habe ich unter anderem folgende Aussage platziert:

 

„Gestern Schleifspuren, heute Superkurzstreckenläufer und Stolperer Par exzellence, morgen auf Gehhilfen angewiesen und übermorgen im Rollstuhl sitzend“.

 

Ich war immer noch kämpferisch gestimmt und habe deshalb ein persönliches Gutachten durch Dr. Schwarz verlangt. Nachdem ich 900 Euro an das Sozialgericht überwiesen hatte, wurde bei meinem Neurologen Dr. Schwarz ein medizinisches Gutachten angefordert. Am 26. August 2002  hatte ich erneut eine  CT. Diesmal wurde nicht nur der Schädel, sondern auch die LWS untersucht. Und siehe da, auch im Rückenmark sind Herdbildungen  entdeckt worden. Da keine Voruntersuchung dieser Region vorlag, konnte nicht festgestellt werden ob es Veränderungen gegeben hatte.

 

Mit dem Gutachten von Dr. Schwarz war das Versorgungsamt zu einem Angebot – 26. Februar 2003 -bereit. Meine emotionale Verfassung ließ mein Kämpferherz ganz schön im Stich, so dass – nach kurzem hin und her - ich schweren Herzens am 5. Mai 2003 dem Angebot  80% GdB und Merkzeichen „G“ zustimmte.

 

Unabhängig von dem Klageverfahren habe ich am 25. März 2003 einen Verschlimmerungsantrag gestellt. Der Antrag wurde zurückgestellt bis zum Ausgang des Klageverfahrens.

 

Mit Bescheid vom 8. September 2003 wurde ein GdB von 90% und die Merkzeichen G (gehbehindert) B (Begleitperson) und aG (außergewöhnlich gehbehindert) anerkannt.

 

Dass dadurch bei mir ein kleiner Freudentaumel ausgelöst wurde, ist doch verständlich, oder? Weil ich nämlich der absoluten Auffassung bin, dass damit endlich Recht geschehen ist.

 

Es war ein harter, schwerer und tränenreich erkämpfter Erfolg, denn zur Hälfte des Verfahrens war ich tatsächlich am Boden und wollte alles hinschmeißen, wollte nichts mehr sehen, hören oder lesen, wollte nur noch meine Ruhe haben.

 

Inzwischen bin ich wieder oben auf und kann nur Jedem empfehlen sein Recht zu suchen, und zwar bis zur letzten Instanz.

 

 

Privat

 

 

Seit dem definitiven Ergebnis, dass nicht nur bei meinem Bruder Karl-Heinz MS vorliegt, sondern auch bei mir, sind inzwischen fünf Jahre vergangen. Eine Aussage meines Neurologen, dass ich spätestens im Jahr 2004 grundsätzlich auf einen Rollstuhl angewiesen bin, hat sich bisher nicht bestätigt. Allerdings benötige ich bei weiteren Entfernungen, wie auch im Urlaub, regelmäßig den Rollstuhl.

 

Gerade weil ich als Selbstfahrer noch sehr aktiv sein wollte, habe ich mir schon ziemlich früh einen Rollstuhl verordnen lassen. Jedoch ist so ein Selbstfahrer-Rolli ein zweischneidiges Schwert. Alle Trottoirs haben eine mehr oder minder starke Neigung, damit das Regenwasser abfließt. Um die Neigung auszugleichen bedarf es eines erheblichen einseitigen Kraftaufwandes. Das alleinige spazieren fahren ist also eher ein Kraftakt. Die Folge war, dass Kalkablagerungen in den Oberarmen starke Schmerzen verursachten und ich meine Selbstfahrerkarriere rasch beendete.

 

Mit meinem „Gehfrei für Erwachsene“ kann ich noch einigermaßen kurze Strecken laufen. Kleine Spaziergänge, insbesondere in Cafèreichen Gegenden sind immer noch drin. Im Urlaub benütze ich jedoch den Rolli. Für den Hausgebrauch kann ich mich auch ohne Gehhilfe bewegen. Es kommt aber immer häufiger vor, dass ich stolpere. Der lange anvisierte Gehstock ist zwischenzeitlich angeschafft.

 

Erheblicher Einschnitt in meine privaten Aktivitäten ist die Tatsache, dass Kanu-, Motorrad- und Radfahren passe sind.

 

Insbesondere wegen der fehlenden Balance und der Kraft habe ich das Motorradfahren relativ früh aufgegeben. Mein Motorrad habe ich allerdings erst 2003 verkauft. Ebenso mein Kanu. Mit dem hatte ich es im Februar 2003, das Wetter war herrlich geeignet zum Paddeln, noch einmal versucht. War aber beim Einsteigen zweimal aus dem Kanu ins Wasser gefallen. Das war dann das endgültige Aus, denn dies zeigte mir, dass auch das Einsteigen ins Kanu ein Balanceakt war, den ich nicht mehr meistern konnte.

 

Mein tolles Fahrrad, das ich mir auch wegen der anfänglichen geringen Einschränkungen zulegen konnte, gebe ich allerdings nicht her. Ich bin immer noch am überlegen ob ich Stützräder anbauen lasse. Weshalb ich dieses bisher nicht tat? Ich habe wahrscheinlich nicht mehr die Kraft den kleinsten Hügel zu bewältigen  und bin deshalb vielleicht noch nicht bereit Geld für eine eventuell „unnötige“ Umrüstung auszugeben.

 

Zumal ich auch einige Euros in einen Ergometer (Heimtrainer) gesteckt habe, den ich ab und zu benütze um wenigstens etwas für die Muskulatur zu tun.

 

Neben doch noch vielen kleinen Dingen des Lebens, die ich, wenn auch mehr oder minder eingeschränkt noch verrichten kann, ist es sehr wichtig, dass das benutzen eines Pkws, natürlich mit Automatik, noch keine entscheidenden Probleme darstellt.

 

Fotografieren, mein letztes Hobby, pflege ich auch nicht mehr so richtig, weil die fehlende Mobilität keine Actionfotos mehr zulässt. Ich habe mir zwar eine simple Digitalkamera zugelegt, es hapert aber gewaltig am Interesse.

 

Ebenfalls hängen lasse ich mich beim Aufbau einer Fotodatei. Der Beginn ist zwar gemacht, bei den Details klemmt es aber gewaltig.

 

Mein größtes Problem ist, dass ich körperlich nicht mehr in der Lage bin meinen früheren Wirkungskreis abzudecken. Es gab viele handwerkliche Verrichtungen die ich selbst erledigte. Bis heute gibt es noch drei, vier „Baustellen“ im Haus, die ich unbedingt schließen muss. Seit neuestem Versuche ich es wieder. Wenn ich dann aber eine halbe oder dreiviertel Stunde gearbeitet habe, bin ich ganz kaputt. Auf diese Weise ergibt sich ein Jahrhundertplan.

 

Die Vorstellung einmal tagein, tagaus zu Hause zu sein, tendiert zu sehr unterschiedlichen Plänen. Mal bin ich froh, dass ich noch ganztätig berufstätig bin, mal wäre ich gerne zu Hause. Zur Zeit habe ich allerdings im Dienst ganz angenehme Möglichkeiten auch schriftstellerisch tätig zu sein, so dass auch noch Spaß zur Arbeit kommt.

 

 

Beruflich

 

 

Ich habe schon mal darüber geschrieben über den Sinneswandel meines Dienstherrn und der beinahe Chance in den höheren Dienst zu kommen. Dieser Zug war sehr schnell abgefahren, nicht zuletzt wegen meiner Erkrankung. Aber auch die Möglichkeit die letzte Stufe im gehobenen Dienst zu erreichen, habe ich aufgegeben.

 

Nachdem ich im Mai 2001 wieder meinen Dienst antrat, habe ich meinem Dezernenten mitteilen müssen, das ich keinen Außendienst mehr absolvieren kann, ebenso die weiteren Aufgaben die ein Dienststellenleiter zwangsläufig hat, nicht mehr erfüllen kann.

 

Der Betriebsarzt hat in seiner Stellungnahme von 10. Januar 2003 aus ärztlicher Sicht dem zugestimmt. Im Frühjahr 2003 wurde ich informiert, dass ein Nachfolger kommen wird. Es dauerte jedoch noch bis August 2003, dann wurde tatsächlich meine Verantwortung auf neue Schultern übertragen. Bei der Einarbeitung ging ich meinem Nachfolger zur Hand. Seit etwa Dezember 2003 bin ich aber ganz und gar auf meinem Schonarbeitsplatz. Was ganz toll ist, ich habe dadurch keinerlei finanzielle Einbußen. Muss aber auch sagen durch meine Routine bin ich nach wie vor geistig in der Lage meinen Aufgaben gerecht zu werden und dadurch mein Geld wert bin.

 

Wenn ich so zurückdenke, erscheint es mir wie graue Vorzeit, als ich so schnell wie möglich aus dem Dienstbetrieb ausscheiden und das freie Leben genießen wollte. Heute überlege ich mir immer mehr, nicht zum 60. Lebensjahr (ohne Pensionsminderung wohlgemerkt) sondern später, vielleicht sogar erst mit 65, aus dem Dienst auszuscheiden. Die Entscheidung hängt, steht und fällt mit der weiteren Entwicklung der MS zusammen. Nach dem derzeitigen Krankheitszustand gäbe es diesbezüglich keine Probleme.

 

 

Gesellschaftlich

 

 

Seit August 2001 bin ich musikalisch wieder aktiv. Wir sind zwischenzeitlich sechs Mann, die regelmäßig montags ihre Übungsstunde abhalten. Der Bassist und ich –Altsaxophon –  (wegen erheblicher mobiler Einschränkungen des linken Armes mußte ich auf ein Instrument umsteigen, dessen Tasten nur die rechte Hand fordert, nämlich ein  Baritonhorn) treffen uns auch freitags. Öffentlich treten wir sehr selten auf, was ich auch wegen meines Handicaps nicht negativ empfinde. Diese Aktivität ist ein sehr wesentlicher Punkt, der trotz allem positiv auf meinen Allgemeinzustand wirkt.

 

Am regelmäßigen Treffen der SHG ms-erkrankter in Speyer nehme ich gerne teil. Bei den sonstigen Ereignissen bin ich zum Teil auch wegen meiner vollen Berufstätigkeit zeitlich nicht in der Lage teilzunehmen.

 

 

Medikation

 

 

Ich nehme absolut keine Medikamente.

 

Nach dem sich das Krankheitsbild stabilisiert hatte, empfahl mir Dr. Schwarz vorbeugend Interferon zu spritzen. Es war eine unangenehme und umständliche, ach  beinah hätte ich es vergessen, eine sauteure Angelegenheit.

 

Nach jeder zweiten oder dritten Spritze hatte ich morgens erhebliche gesundheitliche Probleme. Übelkeit, Schwindel und Brechreiz, sowie eine körperliche Schwäche waren die Folgen. Ich hatte mit viel Abneigung drei Monate Interferon gespritzt als ich in einer Ausgabe der Zeitschrift AKTIV herausgegeben von der DMSG einen Artikel von Prof. Dr. Thompson aus England gelesen habe.

 

Der ging in seinem Artikel auf die Unterschiede, wie schubförmige und „schleichende“ Erkrankung ein. Er hob auch hervor, dass bei so alten Knaben wie bei mir, die eh nur 7% der Betroffenen ausmachen, bisher keinerlei Feld- bzw. Dauerversuche durchgeführt wurden und damit keine Aussage zur medizinischen Wirkung getroffen werden kann. Prompt habe ich die Spritzerei abgesetzt und bin überzeugt, dass dies kein Schaden war.

 

Wenn ich meine miterkrankten Brüder und Schwestern höre, die medikamentös eingestellt sind bis hin zur Verabreichung von Kortison oder gar Bestrahlung, wie sie bei Krebspatienten gängig ist, und keine Besserung vorliegt bzw. in Aussicht steht, ist meine Skepsis meiner Meinung nach berechtigt. Und die Theorie, dass damit schlimmeres verhütet werde, kann niemand nachweisen.

 

 

Entstehung meiner MS

 

 

Trotz enormer Anstrengungen bei der Erforschung der Entstehung von MS wurde bisher noch kein absoluter Auslöser entdeckt. Das einzige was immer wieder zu lesen ist, es ist keine Erbkrankheit, auch wenn es in Familien mehrere Mitglieder, wie bei uns, treffen kann.

 

Bei meinen Vorfahren ist mir auch niemand bekannt, der an MS erkrankt gewesen wäre.

 

Die Theorie, dass der Eppstein-Barr-Virus das Pfeiffersche Drüsenfieber auslösen kann und mit einer Erhöhung des MS-Risikos in Verbindung gebracht wird, zuletzt aufgrund von Studien erkrankter US-Soldaten, oder ein seelisches Trauma Ursache war, ist nach wie vor offen.

 

Heftigst geschmunzelt habe ich bei dem Artikel über das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie „schützen jüngere Geschwister vor dem MS-Risiko?“   an der Australien National University Canberra in Heft Nr. 1/2005 AKTIV. Nach der Aussage hätten weder mein Bruder, sein Sohn noch ich MS bekommen dürfen!!!!!!!!!!!

 

 

Erich Peter Kuhn©

Redaktionell ergänzt im August 2014